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Das Schneekind

Florian Melchert, Klasse 12/6

Lustig tanzend sanken sie langsam und mit tausenden Drehungen auf die Erde herab.
Woher kannten sie nur den Weg, die kleinen Tänzer?
Wollte denn keiner von ihnen zurück nach Hause?
Das Kind beschloss, dass sie es hier unten einfach schöner fanden.
Sie konnten sich hier an den Händen halten und wie ein warmes Tuch alles zudecken.
Ihre Decke erstreckte sich so weit, wie das Auge reichte, über die ganze große Welt.
Es legte sich mit zu ihnen, wollte bleiben, wo es war und sich mit den kleinen Leuten anfreunden.
Anfangs zögerten sie, doch schon bald setzte sich der erste Tänzer im weißen Kleid auf die bleiche Haut herab.
Kurz darauf folgte ein zweiter und schon bald konnte das Kind sie nicht mehr zählen.
„Ob sie jetzt hier mit mir Zuhause sind?“, fragte es sich.
Wärme drang in seine Knochen und ummantelte es wie ein warmer Pelz.
Vielleicht konnte es für immer bei den Tänzern liegen.
Es sah sich um:
Der Wald leuchtete in sanften Brauntönen und der Himmel lachte in einem warmen Schwarz auf das Kind herab.
Inmitten des Himmelsmeeres schwamm eine kleine Insel und überall um diese herum waren noch mehr kleine Tänzer.
So viele von ihnen schwammen da oben, in ihrem Heim und waren noch nicht bereit, mit ihren Brüdern auf die Erde herab zu tanzen.
Ob sie da oben glücklich waren?
Das Kind beschloss, sie bald zu besuchen und zu fragen, aber erst würde es sich hier unten, in seinem neuen Zuhause, ausruhen, auch wenn diesem Zuhause etwas fehlte.
Doch es konnte nicht mehr, es war heute schon lange genug gelaufen.
Langsam vielen ihm die Augen zu und es schlief ein.
Mollig warme Träume hoben es hoch und trugen es hinweg in ein Land ohne Sorgen.
Als es die schweren Lieder wieder öffnete, sehnte es sich noch immer nach dem erträumten Schoß der Mutter.
Die Tänzer hatten mittlerweile mit ihrem Tanz aufgehört und der Himmel sah leer aus.
Sich langsam aufrichtend, bemerkte das Kind eine Gestalt, die wartend vor ihm stand.
Ein Mann mit langer Robe sah freundlichen auf das kleine Wesen herab.
Seine Kapuze hatte er weit ins Gesicht gezogen und an seiner Seite stand ein schneeweißer Wolf.
Er reichte dem Kind die Hand, zog es auf die Beine und richtete seinen Finger zum Himmel.
Mit sanfter Stimme flüsterte er, dass sie nun gehen würden, dass sie jetzt über bunte Wege aus warmen Eis, nach Hause zu den Sternen müssten.

Und so liefen sie über die schönsten Regenbögen, die sich wie Brücken durch die Welt schlängelten.
Das Kind dachte an die Sommerregentropfen zurück, die ihnen diese wunderschöne Form verliehen haben mussten.
Es war stets aus dem Haus gerannt, wenn Regentropfen durch die warme Luft geflogen sind und von der Sonne bunt bemalt wurden.
Jetzt ging es auf ihnen, barfuß, und fühlte mit jedem Schritt das warme Wasser an den Füßen.
Neben ihm trabte der weiße Wolf und sah es mit großen Augen an.
Man hätte meinen können, er lächelte.
„Da ist dein Dorf …“, sagte der Kapuzenmann als sie an kleinen Holzbauten vorbeikamen.
Sie alle waren mit Schnee bedeckt und graue Geister stiegen aus ihren Schornsteinen.
Es waren so viele, dass die wenigen schwarzen, die sich unter sie gemischt hatten, nicht auffielen.
In der Mitte des Dorfplatzes hatten sich die Bewohner versammelt.
Sie schienen zu sprechen, doch aus ihren Mündern kamen keine Worte, keine Laute, keine Töne.
Stattdessen marschierten kleine Spielzeugsoldaten aus ihnen heraus, bereit miteinander zu kämpfen.
Sie waren blau und grün, mache grau, andere gelb.
Zwischen den ganzen bunten Farben stand auch, kaum zu bemerken, eine dunkle schwarze Puppe.
Das Kind mochte sie nicht.
Sie ließ ihm ein Schauer über den Rücken fahren und je länger es in die leeren Augen starrte, umso tiefer schien es zu fallen.
Es fiel in ein Loch, so gefräßig und tief …
Ein Monster hatte es verschlungen und versuchte nun mit aller Kraft sich aus seinem kleinen Körper zu nähren.
Es zerrte und riss an ihm, nahm ihm jeden Halt …
Kampfgeräusche rissen das Kind wieder aus seiner Trance.
Seine Aufmerksamkeit wurde auf die anderen Soldaten gezogen, denn diese fingen in der Mitte des Platzes an zu kämpfen.
Holzkanonen malten knallende Kugeln, Strohpuppen fielen und erhoben sich wieder.
Manche Männchen wurden von Speeren verkleinert, Hellebarden erstachen Spielzeugsoldaten, die dann in die Vergangenheit vielen.
Die Kämpfe waren brutal, doch irgendwann konnte sich die blauen und grünen Männchen durchsetzen.
Umgeben von den siegreichen Truppen, standen die Eltern des Kindes auf dem Platz und beluden mit einem schmerzenden Lächeln die Schlitten.
Die anderen Dorfbewohner taten es ihnen gleich.
Doch da bemerkte das Kind, ganz am Rand, wieder die schwarze Figur.
Unter ihr lief der Dorfälteste …
Das Kind mochte den gruseligen Mann genauso wenig wie seine grauenhafte Puppe.
Langsam kamen sie auf die siegreiche Meute zu.
Die kleinen Soldaten schienen gar nicht zu merken, was für ein Unheil sie da überrollte.
Sie behandelten das Monster friedlich, manche hießen es gar willkommen!
Dieses jedoch verwandelte die Soldaten, sobald es sie berührte, in seine schwarzen Artgenossen.
Es waren hässliche, grauenvolle Wesen.
Je mehr es von ihnen gab, umso weniger Leute halfen mit den Schlitten.
Und irgendwann war nur noch die Mutter des Kindes übrig.
Bei ihr war kein schwarzes Monster.
Ein letzter blass blauer Soldat beschützte sie, doch auch sie belud keinen der Schlitten mehr.
„Wir müssen weiter.“ Das Kind war, ohne es zu merken, stehen geblieben.
Es gestattete sich noch einen letzten Blick auf die Menschen und ging dann weiter dem Kapuzenmann hinterher.
Der weiße Wolf, versuchte es aufzumuntern.

Lange Zeit liefen sie durch die warme, weiße Welt.
Das Kind ergriff die Hand des Mannes und fühlte seine kalte Haut.
Er wich weder zurück noch hielt er es fest, er ging einfach weiter, stumm, und das Kind folgte ihm.
Nach einer Weile, als sie die Häuser längst hinten sich gelassen hatten, drehte sich der Mann zu dem Kind:
„Bist du nicht böse?
Auf den Ältesten, deine Eltern, das Dorf?“
Es schüttete den Kopf.
„Auch wenn sie wegen einer Lüge dich zu mir führten?“
Es schüttelte wieder den Kopf und zeigte lächelnd auf den wunderschönen Wald und in die Richtung des Dorfes, das irgendwo weit hinter ihnen liegen musste.
„Du meinst, sie opferten dich, um das zu retten?“
Er machte eine lange Pause.
„Bist du traurig?“
Diesmal nickte es.
Eine kleine Träne rollte über seine Wange.
Langsam gingen sie weiter und der weiße Wolf rückte näher an das gebrechliche Wesen heran.
Sein warmes Fell hatte etwas Beruhigendes.
„Sie werden trauern …
Wenn auch nicht lange, sie werden trauern.
Doch das Leben und die Lügen werden den Schmerz schnell versiegen lassen.“
Das Kind sah in die Ferne, sein Blick verriet, dass es wusste, dass es so war.
„Hattest du jemanden besonders gern?“
Es antwortete nicht, saß in ihm doch noch der Schmerz, dass die Person, die es am meisten liebte, nicht einmal auf den Dorfplatz gegangen war, nicht einmal trauerte.
Wahrscheinlich blieb sie in ihrer warmen Hütte, bei ihren Kräutern und Gewächsen und wusste nicht einmal, dass es sie nicht mehr besuchen käme.

„Ich will dir noch etwas zeigen.“
Der Kapuzenmann schlug eine andere Richtung ein.
Sie kamen in eine Stadt, die anders aussah, als sie das Kind in Erinnerung hatte, alles sah neuer aus, als läge die Stadt in einem weit entfernten Land der Zukunft.
Es war Nacht und nur aus einem kleinen Fenster schien noch Licht.
Sie bleiben davor stehen und sahen hinein in das kleine Zimmer.
Ein Mann saß dort, vertieft in seine Notizen und weit über den Tisch gelehnt.
Mit schnellen Bewegungen ließ er den Stift über das Papier fahren und mit jedem Strich, den er setzte, kam er der Vollendung seines Kunstwerkes näher.
Je länger das Kind hinsah, umso genauer konnte es erkennen, was er mit Worten in die Luft malte:
Flüche gegen falsche Schriften, Mut in Zeiten der Verzweiflung.
Er schrieb, wie Gut über Böse siegte und über der Wahrheit hellen Schein.
Er ließ die Leute reuen und lernen und schickte erst dann das Kind in den Wald.
Er ließ es am Leben, unfähig, es umzubringen …
Sei es auch nur der Tod in der Geschichte.
„Er schreibt von dir.“
Das Kind sah den Mann unter der Kapuze verwundert an, stimmte doch kaum etwas von dem Bild, das der Künstler zeichnete.
„Er schreibt, wie es hätte sein sollen.
Er schreibt, wie es werden soll.
Er schreibt gegen falsche Geschichten an und kreiert etwas Fantastisches.
Und all das nur, weil du sein Herz nicht loslässt.“
Das Kind durchzog ein beschwichtigendes Gefühl, welches jedoch schnell von der Trauer wieder übermannt wurde.
Ein Fremder, erinnerte sich, trauerte, bereute …
Ein Fremder.
Es nahm wieder die Hand des Kapuzenmannes und sie gingen weiter, stiegen höher und höher und irgendwann verlor das Kind die Welt aus den Augen.
Sie schienen ewig zu gehen und auch, wenn die Regenbogentreppen stets nach oben führten, wurde das Kind nicht müde.
Eine schwarze Decke umhüllte sie.
"Wir sind da.", die Stimme des Mannes, war das einzige, was die schwarze Stille durchdrang.
Danach folgte Ruhe und einen ewigen Moment lang passierte nichts.
Dann gingen nach und nach überall Lichter an.
Sie waren schneeweiß und vollführten wunderschöne Tänze auf ihren Plätzen.
Es waren die Tänzer, welche das Kind schon von der Erde gesehen hatte.
Ein Gefühl der Heimat durchzog es und sofort wurde ihm klar, dass es wirklich Zuhause war.
Hier würde es bleiben, bis es wieder auf die Erde tanzen sollte.
Der Schnee war schon lange geschmolzen und die Welt hatte ihr grünes Kleid wieder übergezogen.
Alle Kräuter und Blumen streckten nun ihre Leiber aus dem Boden, um dem Himmel entgegenzuwachsen.
Tagsüber wurde die Welt von Sonnenstrahlen erhitzt und auch nachdem die Sonne mit rotem Schein hinter den Horizont getaucht war, behielt der Wald viel ihrer Wärme fest im Arm.
Die laue Luft hatte etwas Tröstliches an sich.
Sie ging über abgelegene Wege, fern ab der Blicke der Dörfler, hinüber in den Wald.
Das Risiko, gesehen zu werden, war zwar gering, trotzdem wollte sie es nicht eingehen und den Hauptweg, welcher aus dem Dorf führte, benutzen.
Sie wusste nicht, was diese abergläubige Meute tun würde, wenn sie sie entdeckte.
Außerdem war sie schon oft auf den schmalen Pfaden gelaufen, um die verschiedensten Pflanzen für ihre Salben und für andere Medizin zu suchen.
Doch an diesem Abend wäre sie selbst an den seltensten Kräutern vorbeigegangen.
Der laue Sommerwind blies eiskalt ihren Nacken entlang.
Aufgewühlte Blätter fielen wie kleine Tänzer von den Bäumen.
Mit tausend Umdrehungen segelten sie auf den Boden.
Sie war da.
Inmitten der kleinen Lichtung, etwas versteckt vor neugierigen Blicken, stand ein kleiner Stein.
Tränen stiegen in ihre Augen, als sie sich davor niederließ.
Und während der Mond und seine Tänzer über den Himmel wanderten, kniete sie dort und weinte.
In ihrer Erinnerung schwebt immer noch das Bild des Kindes, welches hier beerdigt lag.
Nach einer Weile schweifte ihr Blick zum Himmel und genau neben dem Mond fiel ihr das Funkeln eines Sterns ins Auge.
Noch nie hatte sie einen Stern so hell lächeln sehen.